Fluss, Stadt, Superstadt!  | 2011
 


Linz ist mittelgroß, was ein gewisses Dilemma bedeutet. Und dennoch ist es offener als manch anderer Ort hierzulande. Vielleicht liegt es am Wasser inmitten der Stadt, das ein Abdriften erlaubt. Ja, Linz liegt an der Donau!

Der Blick aus meinem Fenster fällt auf die die gläsernen Kuben des Kunstmuseums Lentos und des Ars Electronica Centers, der eine ausgehöhlt, der andere abgeschrägt, dazwischen der Fluss, träge von links nach rechts fließend. Im Hintergrund das Brucknerhaus, spätmodern und rund, am Uferstreifen riesige Stahlskulpturen, die mich an Chicago erinnern. Linz hat etwas. Nie habe ich am Wasser gelebt. Nun habe ich ihn, den Blick auf den Fluss in einer Stadt, mit der mich keine Geschichte verbindet, noch ist alles neu.

Meine erste Erinnerung an Linz: Eine Fahrt zu einem Konzert von Willi Warma, Anfang der 1980er Jahre. Stahlstadtkinder immer im Duell / Stahlstadtkinder leben viel zu schnell, Stahlstadtkinder in den Stahlfabriken / Und abends besoffen in den Discotheken. Willi Warma produzierten Großstadtmusik. Im Schatten von Hochöfen und Chemiefabrik, im wohlhabenden, pragmatischen und trostlosen Linz wurde Punk glaubhaft.
Auch wenn sich Image, Lebensqualität und kulturelles Angebot seit den 1980er Jahren gewandelt haben, leidet Linz nach wie vor unter Argumentationszwang. Zu groß für Kleinstadtnähe (fragen Sie bloß nie nach einer Straße) und zu klein für Anonymität (warum sind alle gleich per du mit mir?). Hier fällt auf, was aus dem gewohnten Rahmen fällt. Etwa die Nike von Samothrake, eine acht Meter hohe Stahlskulptur als Nachbildung der antiken Siegesgöttin, 1977 von der Gruppe Haus-Rucker-Co an jenem Gebäude montiert, aus dem mein Blick nun fällt, ein städtebaulich maßgebliches und doch fragwürdigen Gebäude aus der Zeit des Nationalsozialismus, heute die Kunstuniversität. Sie schwebte gleichsam über mir, die Nike, mit ähnlichem Blickwinkel, am Ende eines Stahlarms, schräg aufrecht in Richtung Osten blickend, die Lenin'sche Rednertribüne interpretierend. Mit der Nike erhielt Linz das provozierendste Moment der Nachkriegsjahrzehnte, eine Mischung aus antiker Heroik und sozialistischem Manifest, ein Vorzeichen der Postmoderne, ohne platt zu wirken. In der Nacht des 22. Novembers 1979 wurde die Nike schließlich demontiert, ohne Ankündigung, weil man Unruhen erwartete.

Vieles wurde probiert in Linz, Vieles scheiterte. Die Geschichte des neuen Musiktheaters etwa steht beispielhaft für die Anstrengung im ewigen Argumentationszwang (was ist eine Stadt, was braucht eine Stadt, was braucht Linz?). Nach erfolgreichem Wettbewerb, ebenso erfolgreicher Volksbefragung und mehrfachem Standortwechsel steht es nun an einem typischen Ort für Linz, gut gelegen und dennoch abseits, neben den Bahngeleisen und mitten auf einer der wichtigsten städtebaulichen Achsen in Linz. Es wird immer falsch sitzen und doch erfolgreich werden. Die Kombination aus Oper und Bahn erinnert an durchaus aktuelle Funktionsüberlagerungen (Transprogramming, Crossprogramming) und die Tatsache, dass gleich nebenan in den nächsten Jahren nach Absiedelung der Lokomotivproduktion eine riesige Industriebrache entstehen wird, macht es noch besser.

Stadt sollte nie zu Ende geplant sein. Es benötigt den unfertigen Platz, die fragwürdigen Gebäude und die brach liegende Industrie, um Stadt temporär oder permanent ergänzen zu können. Und wahrscheinlich benötigt es den Fluss und die Bewegung. In Linz gibt es mehr Freiraum als anderswo, eröffnet sich ein Hafengelände mit Kränen inmitten der Stadt oder warten Tausende Quadratmeter Hallen in den brach liegenden Tabakwerken auf Nutzung. Noch hält sich der Geruch von Tabak hartnäckig, noch ist Leerraum da.

Vieles geht gut in Linz, Anderes nicht, das liegt an dem gerade nicht Großstadtsein. Manches wirkt übereifrig gestaltet, vollgeräumt oder allzu kontrolliert, Manches bleibt angenehm leer und Manches ist einfach nur schlecht geplant. Und dennoch hat Linz eine eine erstaunliche Anzahl spätmoderner Gebäude, ragen angenehm glatte Türme aus der alten Stadt, rüttelt Industrie gut wach im Vorbeifahren und werden Brachen auch gerne einmal sich selbst überlassen. Gut auch, dass die Stadt nie zu Ende geplant wurde, dass bester Baugrund etwa im Stadtzentrum entlang der Donau einfach frei gehalten wird für den periodisch stattfindenden Urfahraner Jahrmarkt.

Vielleicht ist Linz auch die Stadt des temporären Abdriftens schlechthin, vermag es mehr als andere Städte, heterotopische Räume, also Gegenorte, wie sie Michel Foucault 1966 definierte, zu eröffnen, die ein zeitlich begrenztes Anderssein erlauben, um verkehrt, verdreht, aus der Achse geworfen und ver-rückt zu sein für kurze Zeit: ein Jahr lang Kulturhauptstadt, drei Monate lang Forum Design, ein paar Tage lang Ars Electronica, ein Abend lang Klangwolke, der Fluss, die Schiffe (die Heterotopien schlechthin), der Hafen, der Jahrmarkt, der Höhenrausch als kurzfristige Eroberung des Himmels über der Stadt: Linz ist voll von Auslagerungsorten und Platzierungen. Abseits ihrer Pragmatik driftet die Stadt wiederholt in pubertäre Zustände, begibt sich auf Hochzeitsreise, wird schwanger, gebärt und verfällt dann wieder in ihren Alltag.

Als ich vor zwei Jahren das Format „Superstadt“ an der Kunstuniversität Linz gründete - ein jährliches Symposium zur Zukunft der Stadt, war es der „Supersommer“, der mich zum Titel inspirierte. Im Juni 1976 hatten Coop Himmelblau, Missing Link, Haus-Rucker-Co, Panamarenko, W.M. Pühringer, die italienische Gruppe Superstudio und mehr in Wien den so genannten „Supersommer“ ausgerufen, den oberen Naschmarkt zur offenen Szene erklärt und einen Sommer lang Stadtutopie gespielt. Aber Wien. Hat es ja leicht. Jedoch: Der Supersommer lag am Wienfluss, Linz liegt an der Donau. Linz, dem jegliche Blasiertheit fehlt, wo man nicht immer alles richtig machte, modern wie postmodern oft ohne viel Konzept baute, wo sich Stadt eher fragmentiert und collagiert denn als städtebauliches Ganzes präsentiert, wo sich der Fluss eine Schneise mitten durch die Stadt gräbt (wohnst du in Linz oder in Urfahr?), wo Reichtum, Finanzkrise, Umweltproblem, Aufschwung, desaströse Veranstaltung und grandiose Kultur periodisch wechseln und Leerräume nicht gleich gefüllt werden. Linz ist groß genug, um nicht zu viel Nähe zu produzieren und klein genug, um Provokation garantieren zu können. Es sieht also gut aus für die Stadt, für Linz, für eine Superstadt.

 

In: Lippitsch, Doris (Hg.): QUER. Seiten für Architektur und Urbanes. Nr. 2 / 2011. Ecomedia, Wien 2012.

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